Jugendgewalt: Strukturelle Probleme brauchen strukturelle Lösungen

Grafik mit dem Titel "Dimensionen der Segregation. Vier abgerundete Vierecke. Links oben "Einkommen / Vermögen", rechts oben "Bildung", links unten "Ethnische Segregation", rechts unten "Alterssegregation

“Viele Probleme, wenig Lösungen” titelte jüngst der MDR zur Jugendgewalt in Halle. Tatsächlich, liest man die Pressemitteilungen der besonders lautstarken Akteure in der Stadt, stößt man auf ein Paradox: Eigentlich sei alles ganz einfach, man müsse nur endlich mal hart durchgreifen. Doch konkrete, umsetzbare Maßnahmen haben diese Statements abseits von kurzfristiger Repression nur selten zu bieten. Unser Expertengespräch mit Hans Goldenbaum (Sozialwissenschaftler und Systemischer Anti-Gewalt-Trainer) hat nun gezeigt: Will man Jugendgewalt tatsächlich effektiv bekämpfen, braucht es strukturelle Lösungen.

Segregation und "Problemdruck"

Vielleicht steckte die wichtigste Erkenntnis des Abends schon in der Karte des “sozialen Problemdrucks”, die Hans Goldenbaum ganz zu Beginn zeigte. Dort stachen zwei rote Flecken im Stadtgebiet von Halle heraus: Neustadt und die Silberhöhe. Vielen sei immer noch nicht klar, dass in diesen Stadtteilen bis zu 80 Prozent der Kinder in Armut aufwachsen, erklärte Goldenbaum.

Ursache dafür ist eine in Halle besonders ausgeprägte Segregationsdynamik: In den 90er Jahren war Halle eine der am stärksten schrumpfenden Städte Ostdeutschlands, was vor allem die heute problembelasteten Sozialräume traf. Dadurch sanken die Mieten in diesen Stadtteilen, wer es sich leisten konnte, zog in die (sanierten) Altbauten der Innenstadt und stabilisierte dort die Preise. In den folgenden Jahrzehnten führte dies dazu, dass vor allem Geringverdienende und Sozialleistungsbeziehende in diese Stadtteile zogen. Hinzu kamen Geflüchtete: zuerst aus den Nachfolgestaaten der Sowjetunion und seit 2015 in größerer Zahl aus Syrien und Afghanistan. Geflüchtete können sich Art und Ort ihrer Wohnung nur sehr eingeschränkt selbst aussuchen. Wohnungen, die den sogenannten “Kosten der Unterkunft” des Sozialrechts entsprechen, liegen nämlich größtenteils in den Großwohnsiedlungen. Dadurch kommt es speziell in Neustadt zu einer Konzentration von Menschen in Armutslagen, mit niedrigem Bildungsstatus und solchen mit Migrationserfahrungen.

Segregation wiederum, so Goldenbaum, finde durch die sogenannten “Schuleinzugsbezirke” auch Niederschlag in der Zusammensetzung der Grundschul- und später auch der Sekundarschulklassen. Somit säßen in diesen Klassen zum einen sehr viele Kinder, die in Armut leben, als auch solche, deren Eltern noch kein oder nur wenig Deutsch sprächen. Dem Bildungssystem gelänge es jedoch – aufgrund u.a. des Lehrermangels und der schlecht ausgestatteten Schulsozialarbeit – nicht die mangelnden Ressourcen armer Kinder und die Sprachdefizite auszugleichen. Das Ergebnis: Schulprobleme von Sitzenbleiben bis zum Schulabsentismus –  entscheidende Risikofaktoren für “Jugenddelinquenz”, also gewalttätiges und/oder kriminelles Verhalten – sind viel verbreiteter.

Ein praktisches Beispiel hatte Goldenbaum ebenso parat: 2018 strich die Landesregierung den Unterricht für “Deutsch als Zweitsprache” praktisch komplett. In der Folge habe ein Drittel der Schüler*innen ohne Deutschkenntnisse angefangen, die Schule zu schwänzen. Dass es nur ein Drittel gewesen war, sei eigentlich erstaunlich. Während andere Kinder über die Schule Anerkennung erfahren, sei für viele der Kinder in diesen Sozialräumen die Schule eine Quelle von Frustration.

Täter sind oft gleichzeitig Opfer

Das Zusammenkommen einer prekären sozialen Lage, Elternhäusern, die aufgrund ausgeprägter Armut, niedriger Bildung und großen eigenen Herausforderungen ihre Kinder nicht ausreichend unterstützen können und einem sozialräumlichen Umfeld, das Kindern kaum Perspektiven bietet, erhöht das Risiko für Gewalt und/oder Kriminalität enorm. Außerdem benannte Goldenbaum eine Reihe weicherer Faktoren wie eine Normalisierung von Gewalt in der Jugendkultur, ein Mangel an Freizeitangeboten und dysfunktionale Elternhäuser. Durch den allgegenwärtigen Ressourcenmangel bliebe den Jugendlichen nur ihr Körper als Werkzeug, um sich Anerkennung zu verschaffen. Insgesamt sei der Mangel an Quellen der Anerkennung einer der entscheidenden Risikofaktoren für delinquentes Verhalten.

Vor diesem Hintergrund verwundert es auch nicht, dass über die Hälfte der Fälle von Jugendgewalt in Neustadt auftritt und dass über die Hälfte der Täter aus Neustadt stammt. Doch auch der Großteil der Opfer kommt aus Neustadt. Viele sind an einem Tag Täter und im Zuge von Rache und Gegengewalt am nächsten Tag Opfer. Ähnlich sei es, so Goldenbaum, auch in der Diskussion um Jugendliche ohne deutsche Staatsbürgerschaft. Nicht nur 40 % der Täter, sondern auch ein ähnlicher großer Teil der Opfer hätte keinen deutschen Pass. “Eine spezifische Dynamik von Ausländern gegen Deutsche geben die statistischen Daten schlicht nicht her”, hielt Goldenbaum fest.

“Wenn wir nichts an den strukturellen Missständen ändern und die Schnittstelle Schule/Familie adressieren, wird es weiter Jugendkriminalität geben”, fasste Goldenbaum seinen Vortrag zusammen.

Was tun?

Wenig überraschend standen in der anschließenden Diskussion die Handlungsmöglichkeiten im Mittelpunkt. “Wir haben uns von Anfang an für einen Dreiklang aus Sicherheitsmaßnahmen vor Ort, Interventionsmaßnahmen für Täter und einer Stärkung der Prävention eingesetzt”, meinte Detlef Wend, der die Fraktion als Vorsitzender des Jugendhilfeausschusses vertritt. Dem kamen auch die von Goldenbaum vorgeschlagenen Maßnahmen sehr nahe: Zur Polizei müsse er wenig sagen, denn hier sei in den letzten Wochen hinsichtlich erhöhter Präsenz und Ermittlungsdruck schon enorm viel passiert.

Doch man dürfe sich nicht nur auf Repression beschränken: Es brauche permanent verfügbare Sprachmittler – nicht primär für die Schüler*innen (hier ist Sprachförderung entscheidend), sondern vor allem für die Zusammenarbeit mit dem Elternhaus. Denn genau diese Elternarbeit sei extrem effektiv in der Bearbeitung der Probleme der Kinder und Jugendlichen. Deswegen brauche es auch mehr Angebote wie Elterncafés und Elternberatung. Die Fraktion MitBürger setzt sich beispielsweise seit Längerem für ein Familieninformationsbüro ein.

Auch beim Dauerbrenner-Thema Schulsozialarbeit deckten sich die Empfehlungen des Experten mit den Positionen der Fraktion: Es brauche eine Stärkung der Schulsozialarbeit, bestenfalls an allen Schulen, solange aber die Ressourcen so sehr beschränkt seien, vor allem an Schulen mit großem Problemdruck, wie bspw. der Fliederweg-Schule. Allgemein müsse die aufsuchende Sozialarbeit viel stärker in den Vordergrund rücken.

Neben diesen schon oft diskutierten und stark durch die Landespolitik beeinflussten Maßnahmen, wies der Sozialwissenschaftler jedoch auch auf ein ganz praktisches Problem hin: Sozialstunden würden heute zumeist in Form wenig pädagogischer Arbeitsdienste geleistet (z.B. Grünflächenpflege auf dem Friedhof), weil man es versäumt hätte, pädagogisch wertvolle Maßnahmenprogramme in der Stadt zu etablieren. Es gebe somit schlicht keine sinnvollen Maßnahmen, die Richter im Jugendgerichtsverfahren anordnen könnten. Unser Fraktionsvorsitzender, Tom Wolter, sicherte sogleich zu, sich diesem Thema anzunehmen.

Fazit

Was also bleibt von diesen intensiven 90+ Minuten? Zum einen, bestätigt die wissenschaftliche Analyse, dass es sich bei Jugendgewalt eben nicht um ein individuelles Problem der jugendlichen Täter handelt. Auch deshalb gehen Debatten über Nationalitäten und knallharte Strafen am Thema vorbei. Vielmehr führen strukturelle Umstände zu einer Zunahme der Jugendgewalt, die zum Teil Jahrzehnte alt sind. Das bedeutet jedoch nicht, dass man die Sicherheitsmaßnahmen, die die Polizei in den letzten Wochen ergriffen hat, in Frage stellen sollte. Nur dürfen diese Maßnahmen nicht die einzigen bleiben. Ohne eine Investition in Prävention (Sozialarbeit) und Intervention (Jugendgerichtshilfe) wird es nicht gehen.

An vielen Stellen ist das jetzige Jugendgewaltproblem somit ein Resultat einer jahrelang vernachlässigten Jugend(sozial)arbeit, aber auch des eklatanten Ressourcenmangels in den Kommunen sowie Fehlentscheidungen in der Bildungspolitik des Landes. Was Investitionen in Bildung kombiniert mit gezielter Elternarbeit erreichen können, hat beispielsweise der Fall der Rütli-Schule in Berlin gezeigt. Dennoch gibt es auch in der Kommune Spielräume: Die Themen Elternarbeit, Maßnahmen nach dem Jugendgerichtsgesetz und Schaffung von niedrigschwelligen Freizeitangeboten werden uns weiter beschäftigen. In den aktuellen Haushaltsberatungen setzen wir uns beispielsweise für eine Stärkung der Jugendsozialarbeit ein.

Zum anderen hat sich gezeigt, dass im politischen Raum in Halle eine großes Interesse an einer differenzierteren Betrachtung des Themas besteht. So waren neben Vertreter*innen der GRÜNEN und der CDU auch die Polizei sowie die Koordinatorin des Präventionsrates der Stadt im Publikum vertreten. Das ist ein wichtiges Zeichen, denn wie Stadtrat Detlef Wend so oft betont hat: Um Jugendgewalt dauerhaft in den Griff zu bekommen braucht es eine gemeinsame Kraftanstrengung statt blinden Aktionismus.